EU-Arbeitnehmer*innen in Berlin: Systemrelevant, aber unsichtbar

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Gabriele Bischoff

von Gaby Bischoff, Mitglied des Europäischen Parlaments

Bauen, bauen, bauen! So lautet die Devise, um den akuten Wohnungsmangel in den deutschen Großstädten zu entschärfen. In Berlin sollen bis 2030 mehr als 200.000 neue Wohnungen entstehen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind wir auf Arbeitnehmer*innen angewiesen, die aus anderen EU-Ländern für Bauprojekte nach Deutschland entsandt werden. Deutschland allein kann den Bedarf an Arbeitskräften nicht decken.

Nicht nur in der Baubranche sind wir auf mobile Beschäftigte aus der EU angewiesen. Wer pflegt die Eltern, die nicht ins Pflegeheim möchten oder sich das finanziell nicht leisten können? Wer erntet den leckeren Spargel aus Beelitz? Wer hat das Fleisch verarbeitet, das im Sommer auf unseren Grills landet? Sicher fallen euch viele Bereiche eures Lebens ein, in denen ihr direkt von der Arbeitskräftemobilität in der EU profitiert. Leider geht es auf dem europäischen Arbeitsmarkt alles andere als fair zu. Bei uns in Deutschland haben mobile Arbeitnehmer*innen aus anderen EU-Ländern häufig keinen ausreichenden sozialen Schutz. Wenn sie einen Unfall haben, arbeitslos oder krank werden oder in Rente gehen, greift in der Regel ihre Sozialversicherung. Allerdings müssen diese Ansprüche über die Grenzen hinweg gesichert werden, damit sie nicht ohne Sozialschutz dastehen. Bürokratische Schlupflöcher machen es schwarzen Schafen noch immer einfach, die Menschen zu Dumpinglöhnen zu beschäftigen, ohne ausreichende Krankenversicherung oder Altersabsicherung.

Wenn wir beispielsweise einen Blick auf eine Baustelle werfen, wird schnell deutlich, was eine fehlende soziale Absicherung bedeuten kann. Bei Bauarbeiten kann viel passieren: Baugruben, Dächer und Gerüste können einstürzen. Bauarbeiter*innen können von der Leiter fallen oder sich bei der Arbeit mit Strom oder mit schweren Maschinen verletzen. 2021 wurden allein zwischen Januar und September 77.115 Bauunfälle auf deutschen Baustellen gemeldet, 69 Bauarbeiter*innen sind tödlich verunglückt.

Der Transport ins Krankenhaus, die ärztliche Behandlung, die Lohnfortzahlung während der Krankheit – all das wird durch die Sozialversicherung abgedeckt. Die sogenannte EU-Verordnung 883 stellt sicher, dass die EU-Staaten untereinander klären können, wo ein Beschäftigter sozialversichert ist und damit, welche Kranken- oder Unfallkasse für ihn zuständig ist. Die Verordnung ist 1958 in Kraft getreten und ist der dritte soziale Rechtsakt der Europäischen Union, also die älteste Sozialverordnung überhaupt. Das letzte Update hat die Verordnung im Jahr 2010 bekommen. Seitdem hat sich aber viel verändert auf dem europäischen Arbeitsmarkt und es wird Zeit für Verbesserungen, von denen viele Tausende EU-Bürger*innen profitieren könnten.

Seit Beginn meiner Amtszeit 2019 verhandle ich für das Europäische Parlament über eine Überarbeitung dieser Verordnung. Nach intensiven Gesprächen unter fünf verschiedenen EU-Ratspräsidentschaften und nach 17 sogenannten Trilog-Verhandlungen, die zwischen den EU-Institutionen stattfinden, haben wir am 16. Dezember 2021 endlich einen Kompromiss mit der slowenischen Ratspräsidentschaft ausgehandelt. Der Rat, der aus 27 Mitgliedsstaaten besteht, wird beim Trilog immer von der amtierenden EU-Präsidentschaft vertreten. Die Freude darüber, dass wir nach so langer Zeit einen Kompromiss gefunden haben, war riesig und ich bin meinem Team unendlich dankbar für die harte Arbeit. 

Wenige Tage später kam dann die große Ernüchterung kurz vor Weihnachten: Der Kompromiss wurde von einer knappen Mehrheit von Mitgliedstaaten abgelehnt. Seit über drei Jahren können wir uns auf EU-Ebene nicht auf neue Regeln einigen. Das ist ein besorgniserregendes Signal an die über 14 Millionen Bürger*innen, die auf gute und faire Regeln in Europa angewiesen sind. Auf meinen Kanälen in den sozialen Medien habe ich einige Geschichten von Menschen gesammelt, die sich hinter der Verordnung 883 verbergen. Schaut doch mal vorbei!

Seit Anfang des Jahres steht fest, dass ich als Vize-Präsidentin des S&D-Fraktion im Europäischen Parlament unter anderem für eine faire Mobilität auf dem EU-Arbeitsmarkt zuständig bin. Ich werde also weiter gegen Lohn- und Sozialdumping kämpfen, damit alle Arbeitnehmer*innen in der EU von den gleichen Rechten und guten Arbeitsbedingungen profitieren.


erschienen in Forum Nr. 107, März 2022