Mobilitätswende aus der Sicht von blinden und sehbehinderten Verkehrsteilnehmer*innen

Die Mobilitätswende nimmt nicht erst seit dem Energieengpass im Zuge des Ukraine-Kriegs einen vorderen Platz auf der politischen Agenda ein. Peter Woltersdorf, Sachverständiger für barrierefreies Bauen beim Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin (ABSV) beschreibt in seinem Gastbeitrag, wie blinde und sehbehinderte Personen davon profitieren und welche Probleme und Herausforderungen es dabei gibt.

Leider noch viel zu selten: Mit Fußgängerüberweg gesicherte Querung über einen Radweg. (Foto: Peter Woltersdorf, ABSV)

Wenn von der Mobilitätswende die Rede ist, wird vor allem an die Förderung des Radverkehrs und die Attraktivitätssteigerung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) gedacht. Beides sind wichtige Eckpfeiler zur Verschiebung – vom Motorisierten Individualverkehr (MIV) hin zum Umweltverbund bestehend aus ÖPNV, Radfahren und zu Fuß gehen.

Jeder Mensch ist unabhängig vom vorrangig benutzten Verkehrsmittel im Straßenverkehr immer mal zu Fuß unterwegs, der Fußverkehr ist daher in Großstädten die häufigste Verkehrsart.

Blinde und sehbehinderte Menschen haben im Gegensatz zu allen anderen Verkehrsteilnehmer*innen dabei aber keine Auswahlmöglichkeit: Sie können für ihre Mobilitätsbedürfnisse nicht einfach eigenständig auf das Fahrrad oder auf Car-Sharing-Fahrzeuge umsteigen. Sie sind damit auf den ÖPNV und das Zu-Fuß-Gehen angewiesen und profitieren daher von allem, was diese Verkehrsarten verbessert und sicherer macht. Gleichzeitig gehören sie aufgrund der fehlenden Blickverständigung zu den schwächsten und vulnerabelsten Verkehrsteilnehmer*innen.

Es ist daher nachvollziehbar, dass diese Personengruppe ganz besonders von einer Reduzierung des KFZ-Verkehrs und von Verbesserungen im ÖPNV, wie höhere Taktfrequenzen, dichtere Haltestellenabstände und vor allem durchgängige Barrierefreiheit profitiert. Insofern sind die Ziele der Mobilitätswende zu begrüßen.

Aber es gibt auch Aspekte, die künftig die ÖPNV-Nutzung komplizierter werden lassen: Vor allem On-Demand-Angebote, die erst auf Bestellung fahren, sind problematisch.

Zum einen ist die Buchung der Fahrt schwierig, wenn sie ausschließlich über Apps möglich ist. Aufgrund der hohen Altersstruktur unter blinden und sehbehinderten Menschen ist der Anteil der Smartphone-Nutzer aber geringer, zudem bedarf die Bedienung mit akustischen Hilfsfunktionen wie Voice-Over (iOS) und Talk-Back (Android) eines hohen Lernaufwandes, ist aufwändig und im lauten Verkehrsalltag auch oft schwer hörbar. Auch in anderen Bereichen wie der Fahrgastinformation wird immer mehr auf app-basierte Lösungen gesetzt. Es muss also darauf geachtet werden, dass die Digitalisierung der Angebote nicht ausgerechnet die Personengruppen abhängt, die von der Mobilitätswende besonderen Nutzen ziehen könnten.

Zum anderen sind On-Demand-Angebote kritisch, da sie häufig auf „virtuelle Haltestellen“ setzen. Was für die meisten Nutzer hilfreich ist, weil sie nahezu überall einsteigen können, stellt blinde und sehbehinderte Fahrgäste vor erhebliche Probleme: Wie sollen sie feststellen können, wo das bestellte Fahrzeug hält, wenn Auffindestreifen wie an Bushaltestellen fehlen? Noch problematischer wird es, wenn künftig nicht mal mehr Fahrer oder Fahrerin helfen können, weil die Fahrzeuge autonom unterwegs sind. Sorgen bereitet blinden und sehbehinderten Fußgänger*innen aber vor allem die gewollte und natürlich auch sinnvolle Steigerung des Radverkehrs.

Allzu oft wird von den Planenden nämlich der Konflikt zwischen Rad- und KFZ-Verkehr zu Lasten des Fußverkehrs aufgelöst: Die Freigabe des rechtsabbiegenden Radverkehrs durch den Grünen Pfeil beispielsweise gefährdet Fußgänger*innen, die die Straße bei Grün queren wollen - da hilft auch die leider viel zu seltene Ausstattung der Ampeln mit akustischen Signalen nichts. Die Führung des Radverkehrs im Bereich von Bus- und Straßenbahnhaltestellen durch den Wartebereich oder zwischen Wartebereich und Gehweg hindurch, negiert die Konflikte mit aussteigenden Fahrgästen und potentiellen Fahrgästen, die zum Wartehäuschen wollen.

Für blinde und sehbehinderte Menschen kommt erschwerend hinzu, dass der Radverkehr lautlos ist und sie keine Möglichkeit haben, Lücken zum Queren von Radwegen, Fahrradstraßen oder gar Radschnellverbindungen zu hören. Zusätzlich erhöht die gestiegene Geschwindigkeit und das größere Gewicht von E-Bikes und Lastenrädern die Gefahr ganz erheblich. Eine Forderung des ABSV ist es daher, auch über Radwege hinweg Fußgängerüberwege („Zebrastreifen“) anzulegen und so insbesondere blinden und sehbehinderten Menschen dort Vorrang zu gewähren.

Wenn aber gutmeinende Verkehrsplaner*innen auch noch auf Mischverkehrsflächen wie Shared Spaces oder Begegnungszonen setzen und hoffen, damit die gegenseitige Rücksichtnahme zu fördern, entstehen leider schnell „No-Go-Areas“ – Gegenden, die blinde und sehbehinderte Verkehrsteilnehmer*innen meiden, weil sie sich eben nicht über Vorfahrtregelungen per Blickkontakt abstimmen können. Werden dann auch noch neue Verkehrsmittel wie E-Tretroller im Free-Floating-Verleihsystem von der Politik als Teil der Mobilitätswende angepriesen, von den Nutzern aber rücksichts- und gedankenlos überall im Weg abgestellt, dann ergibt sich für schwächere Verkehrsteilnehmer*innen leider ein fader Beigeschmack der Mobilitätswende.

Insgesamt lässt sich also – wie so oft – feststellen, dass gut Gemeintes nur wirklich dann gut wird, wenn es auch gut gemacht ist. Wenn Barrierefreiheit, Verkehrssicherheit und gegenseitige Rücksichtnahme stimmen, dann kann und wird die Mobilitätswende für alle erfolgreich werden.


erschienen in Forum Juli 2022 (digital), Juli 2022