Sechs Thesen zur Verwaltungsmodernisierung in Berlin

von Dr. Frank Nägele, Staatssekretär (Senatskanzlei) für Verwaltungs- und Infrastruktursteuerung

Dr. Frank Nägele

1. Berlin ist einzigartig. Copy and Paste hilft nicht.

Berlin hat eine einzigartige Geschichte – und deshalb eine einzigartige kulturelle und strukturelle Prägung. Es hatten sich selbstbewusste, starke Städte zu Großberlin zusammengeschlossen, ohne dass ein mächtiges Zentrum agiert. Kluge Politiker haben gegen enorme Widerstände einen Teil ihrer Macht abgegeben, um Stadt zu organisieren. Es sollte eine handlungsfähige, aber keine starke zentrale Regierung entstehen. Es waren die Bezirke, die sich selbstbewusst Gestaltungskraft sicherten – und das bis heute. Um die Stadt heute zu verstehen, ist außerdem ein Blick auf die Zeit der Teilung wichtig. West- wie Ostberlin waren unter Käseglocken. Es entstanden eigene, üppig ausgestattete Verwaltungsstrukturen und –kulturen. Mit der deutschen Vereinigung wurden Finanzströme abrupt gekappt, während völlig neue Herausforderungen zu bewältigen waren. Es drohte der administrative Offenbarungseid. Mit Blick auf diese Geschichte und die damit verbundenen Erfahrungen helfen keine Lösungen „von der Stange“.

2. Die richtige Kultur ist das A und O.

Die strukturellen Prägungen aus Großberlin-Zeiten und die kulturellen Prägungen aus den „kuschligen“ Mauerzeiten mit der Nahtod-ähnlichen Erfahrung des schieren Verwaltungskollapses der 90er und 2000er Jahren nährten eine in weiten Teilen der Berliner Verwaltung anzutreffende Kultur des Ja-Nicht-Zuständig-Seins, des Bloß-Nichts-Neues-Ausprobieren-Wollens und des Wird-Sich-Schon-Irgendwie-Erledigen-Denkens. Zuschreibungen wie „Hauptstadt der organisierten Unzuständigkeit“, Behörden-PingPong oder „Failed City“ gründen auf diese Kultur, die gefördert wird durch eine überkomplexe Struktur, in deren Folge kaum eine Einheit allein für ein Projekt oder eine Problemlösung zuständig ist. Diese gewachsene, nicht zeitgemäße Verwaltungskultur gilt es angesichts der heutigen Herausforderungen zu verändern: es braucht eine klarere Struktur, verortbare Verantwortlichkeiten und gute Führung.

3. Führung entscheidet über Veränderungsfähigkeit.

Das ist eine Binse – und zugleich der Schlüssel zu Veränderung in Berlin. Wichtig ist: Führung beginnt auf der obersten Ebene – in den Bezirken wie im Senat. Essentiell ist hier die Erkenntnis, dass wir über kommunale Verwaltung – auch auf der obersten Ebene – sprechen und eher seltener von einer klassischen Landesverwaltung. Das Funktionieren der Stadt ist kommunale Verantwortung und muss sich in den Führungsfähigkeiten auf allen Ebenen spiegeln. Auch bei der Auswahl von StaatssekretärInnen oder StadträtInnen. Selbst SenatorInnen brauchen Kompetenzen für gute Führung, für Delegation von Verantwortung und für Veränderungsbereitschaft. Entscheidend ist, dass Veränderung nicht als einmaliger Vorgang missverstanden wird: nur durch beständige Veränderungs- und Anpassungsprozesse kann Verwaltung den Anforderungen einer modernen Stadt gerecht werden. Gewinnen werden wir den Wettlauf mit den Erwartungen der BürgerInnen, dem Arbeitsmarkt und mit der technischen Entwicklung nur, wenn wir lernen, uns schneller zu verändern, den veränderten Gegebenheiten anzupassen.

4. Die Digitalisierung kann Modernisierung nicht ersetzen.

Wichtig ist, dass wir die Hoffnung nicht zuerst in die Digitalisierung setzen. Denn Digitalisierung verbessert weder Prozesse noch Strukturen, sondern ist ein technisches Mittel zum Zweck. So braucht die gute digitale Verwaltung zunächst schlanke Verwaltungsprozesse und klare Zuständigkeitsregelungen. Die Digitalisierung der Verwaltung muss verzahnt sein mit dieser Modernisierung – auch institutionell. Beides muss in die Hand der Chefin oder des Chefs im Roten Rathaus liegen.

5. Bestehende Strukturen lassen sich nicht brechen.

Die notwendigen Veränderungen lassen sich nicht mit der Brechstange erreichen. Verwaltungen haben ein enormes Beharrungsvermögen. Diese Erfahrung sammelten auch die Berlin-Modernisierer der Nuller- und der Zehner-Jahre dieses Jahrtausends. Das gilt auch für Strukturen. Organische, lernende Entwicklung ist der Schlüssel für Veränderung in Organisationen, deren genetische Grundprägung aus Verlass, Konstanz und Unverzichtbarkeit besteht. Jede Modernisierungsdiskussion in Berlin muss das beherzigen. Die Thesen der schöpferischen Zerstörung sind nicht auf Verwaltungsprozesse, Verwaltungsstrukturen und Verwaltungspersonal anwendbar. Wir brauchen einen Berliner Weg, der die Berliner Besonderheiten berücksichtigt und mit neuer Berliner Entschlossenheit diese wunderschöne Stadt anschlussfähig an die Zukunft macht.

6. Der Zukunftspakt Verwaltung wirkt. Nun sollten wir uns mit Augenmaß an die Verfassung wagen.

Mit Blick auf die Geschichte und die Rahmenbedingungen hat der Senat seit 2018 mit dem Zukunftspakt Verwaltung wichtige Weichen in die richtige Richtung gestellt. Zielvereinbarungen sind als Standardinstrument der Zusammenarbeit von Senat und Bezirken im AZG festgeschrieben, die Konturierung der bezirklichen Geschäftsbereiche ist normiert, die Bezirksbürgermeister sind im Rahmen des verfassungsrechtlich Möglichen gestärkt. Im nächsten Schritt geht es darum – vor allem durch Veränderung der Berliner Verfassung –, gezielt die Steuerungskraft der Senatsverwaltungen und die Umsetzungskraft der Bezirke weiter zu stärken.

Unbedingt diskutieren sollten wir dafür auf Bezirksebene die Schaffung eines politischen Bezirksamts, in dem der Bezirksbürgermeister Personalhoheit und Weisungskraft hat und die Stadträte unabhängig von den BVV-Wahlen besetzt werden.

Auf Senatsebene sollte es gehen um die gezielte Stärkung des Rathauses, um die steuernde Verantwortung der Senatsverwaltungen zu koordinieren und politisch zu orchestrieren, die klare organisatorische Abschichtung von operativen Aufgaben der Senatsverwaltungen (auf Landesämter, Bezirke etc.), um der Steuerungsverantwortung mehr Raum zu geben, und eine Selbstverständnisklärung im Abgeordnetenhaus, damit die operative Eingriffstiefe des parlamentarischen Handelns nicht umfassender ist als auf Senatsebene.

Im Zusammenspiel von Bezirks- und Senatsebene schließlich geht es um die Festlegung von Zielvereinbarungen als Standard-Steuerungsinstrument mit klaren steuernden Impulsen (Bonus-/Malusregelungen, Interventionsmöglichkeiten), um Augenhöhe zu erreichen, die Verankerung einheitlicher Geschäftsbereiche für die Stadträte mit korrespondierenden Verantwortlichkeiten auf Senatsebene und die Diskussion der Finanzbeziehungen, weil die in der Verfassung verankerte Finanzierung der Bezirke über das Globalsummenbudget mit der Steuerung über Zielvereinbarungen nicht synchronisiert ist.


erschienen in Forum Nr. 106, September 2021